Der Alltag ist politisch - deshalb interessiere ich mich für Politik. Weil sie so alltäglich ist, die Politik. So leider auch der Rassismus. Meine Fast-Schwiegertochter Cécile fällt auf, wenn sie sich in die Tram setzt. Viele Blicke folgen ihr und sie wird regelmässig auf ihr schönes, geringeltes schwarzes Haar angesprochen. “Darf ich mal deine Haare anfassen?”, wird sie von Wildfremden gefragt und auch immer wieder mit der Frage konfrontiert “ Woher kommst du eigentlich?”. Aus Kleinhünigen. Da ist Cécile geboren und gross geworden. Hier hört aber das Fragen nicht auf, sondern geht weiter ungefähr so mit “aha, nein weisst du, woher genau kommst du?”.
So wie Cécile geht es vielen Menschen, die nicht dem gängigen Bild entsprechen. Diesem Bild einer weissen Schweizer*in, das suggeriert, es gäbe so etwas wie eine genormte Schweizer*in, mit Wurzeln nur in der Schweiz. Alles homegrown sozusagen. Aber dieses Bild der Homegrown-Schweizer*in mit Wurzeln nur in der Schweiz, es ist verklärt und entspricht nicht der Realität. Denn - wer von uns hat schon einen Stammbaum, der weit zurück reicht und immer schön an den Schweizergrenzen halt macht? Und wenn jemand einen solchen Stammbaum hätte, dem empfehle ich einen DNA-Test zu machen. So wie ich - huch, das war mega spannend! Als die Resultate kamen, war es, als ob ich eine kleine Kristallkugel in den Händen hielte und in meine Vergangenheit schauen konnte. So habe ich erfahren, dass ich Vorfahren habe aus Regionen rund um das Schwarze Meer! 5% meines Erbgutes haben mir Menschen weitergegeben, die am Schwarzen Meer und noch tiefer im Orient lebten. Kürzlich habe ich gelesen, dass viele Schweizer*innen von Menschen aus dieser Region abstammen. Das war eine grosse Einwanderungswelle damals, vor ungefähr 10‘000 Jahren.
Die Schweiz ist ein Einwanderungsland. Schon lange. Wir alle sind geprägt von diesen Wanderbewegungen. So ist die Geschichte der Menschheit eigentlich eine Geschichte der Migration. Migration gehört zu uns, sie ist keine Rand- oder Nebenerscheinung der Geschichte. Sie ist normal und wir brauchen eine neue Sichtweise! Eine, die auf Migration nicht aus einer Krisenoptik reagiert, sondern aktiv Rahmenbedingungen schafft, die eine menschenwürdige Migration ermöglichen. Migration verschwindet nicht - was verschwinden muss, ist der Rassismus, dem Menschen bei uns begegnen.
Zwischendurch hat sich die Migrationsbewegung in der Schweiz aber umgedreht: Hungersnöte im 19. Jahrhundert vertrieben unsere Vorfahren aus ihrer Heimat. Viele versuchten ihr Glück in den USA. Die Schweiz wurde zum Auswanderungsland. Auch ich habe Verwandte in Amerika, sagt meine DNA-Analyse. Sie hatten damals alles zurückgelassen, was ihnen lieb war und sich auf den beschwerlichen Weg ins unbekannte Land gemacht. Heute würden wir sagen, Wirtschaftsflüchtlinge eben.
Seit knapp 100 Jahren sind wir es nun wieder, ein Einwanderungsland. Durch die Industrialisierung entstanden unzählige Arbeitsplätze und wir waren darauf angewiesen – genau wie heute - dass Menschen aus dem Ausland in der Schweiz eine Arbeit annahmen. So gelang uns eine enorme wirtschaftliche Entwicklung, der Ausbau unserer Sozialwerke wie der AHV und wir erhielten die Möglichkeit, mit den neuen Steuererträgen unser Land hinsichtlich Verkehr, Infrastrukturen, Bildung etc. auszubauen.
Der Ausbau der demokratischen Rechte verlief jedoch nicht parallel zur Arbeitsleistung, die von Zugezogenen übernommen wurde. Die Schweiz hat eines der restriktivsten Regime hinsichtlich Einbürgerung. In der Schweiz leben heute rund 25% ohne Schweizpass, vor 15 Jahren waren es noch rund 20%. Sie arbeiten mit uns, zahlen Steuern und prägen den Schweizer Alltag. Sind aber nicht stimmberechtigt, dürfen nicht mitbestimmen, obwohl sie die schweizerischen Rahmenbedingungen genauso betreffen wie uns, die den roten Pass haben. Das ist eine alltägliche Situation, die mich wütend macht - wer mitarbeitet und mitzahlt, alle Pflichten übernimmt, soll auch mitbestimmen können. Als Land, das so stark geprägt und mitgetragen ist von Menschen, die in die Schweiz immigriert sind, sollten wir es doch besser wissen! Unser Staat steht auf den Schultern jener, die hier geboren u n d eingewandert sind. Wir brauchen die Ideen, die Gestaltungskraft aller, damit wir die grossen zivilisatorischen Herausforderungen unserer Zeit meistern können.
Eine grosse Stärke der Schweiz ist ihre Integrationskraft. Wir sind eine Willensnation. Es ist an der Zeit, vom verklärten Bild der homegrown Schweizer*in Abschied zu nehmen und unsere über die Jahrhunderte entstandene Vielfalt zu feiern und wertzuschätzen. Wir sind die Schweiz, weil wir die Schweiz sein wollen, weil uns Werte verbinden, egal, woher wir kommen.
Mehr Infos? Aktiv werden? Hier findest du mehr dazu:
Einbürgerung und damit der Erhalt von demokratischen Rechten, soll in der Verfassung verankert werden: Demokratie Initiative Demokratie Initiative (demokratie-volksinitiative.ch)
Alle Europäer stammen von Einwanderern ab: Dieses Video der MaxPlanckSociety zeigt die Migrationsströme auf und erklärt, wie es zu hellen und dunklen Hauttönen gekommen ist: Migration: Alle Europäer stammen von Einwanderern ab | Wissen Was mit MrWissen2go - YouTube
Und hier eine kleine Einführung in die Schweizer Migrationsgeschichte, gehalten von Geschichtslehrer Philipp Löpfe: Schweizer Migrationsgeschichte 1 - Begriffe und Antike - YouTube